Die Lüge gewinnt den Job? Ist das ernst gemeint? Gilt auch: die Lüge gewinnt die Kandidatin oder den Kandidaten? Wir sind ja schließlich im Krieg um die Talente und im Krieg ist bekanntermaßen jedes Mittel erlaubt.
Jedenfalls sollten beide Seiten sich zweimal überlegen, ob sie Schwierigkeiten verschweigen und nur sich selbst rosarot geschönt darstellen. Es könnte zu einem doppelt gemoppelten Reinfall kommen.
Ist Personalauswahl Lügen durchschauen?
Schauen wir mal zusammen genauer hin.
Nachdem zuletzt die Profiler* durch die Medien gegangen sind, waren mir ein paar Argumente auf LinkedIn oder in Diskussionen aufgefallen.
Da standen auf der einen Seite diejenigen, die sich für gute Eignungsdiagnostik stark gemacht haben.
Erst macht man eine Anforderungsanalyse. Dann leitet man daraus das spezifische Vorgehen mit den richtigen Argumenten ab. Profiliering ist Unsinn, das hat im Recruiting keine Berechtigung.
Auf der anderen Seite ging es um etwas ganz anderes. Eher hilflos wirkende Führungskräfte schrieben „Ich will einfach mein Gegenüber durchschauen. Ich will nicht, dass die Bewerberinnen oder Bewerber mich anlügen. Ich will die Wahrheit wissen.“ Und dazu gibt es dann die üblichen Verdächtigen, die ihre Hilfe anbieten: Nach „NLP“ erkennst Du die Lüge an der Blickrichtung. Dabei ist ja NLP selbst eine krasse Geschichte. Aber dazu gern an anderer Stelle bei Interesse mal mehr. Die Profiliar* haben das angeblich beim FBI oder sonst wo gelernt. Nur genau fragen darf man sie nicht oder ihre Referenzlisten prüfen, da findet man auch das einige oder andere (nicht) heraus.
Aber auch bei manchen eignungsdiagnostischen Instrumenten wird die Frage der „Verfälschbarkeit“ diskutiert. Da geht es um Antworttendenzen, die von sozialer Erwünschtheit und nicht von dem Wunsch nach Selbstoffenbarung geprägt sind. Oder bei Leistungstests geht es sogar um Betrug.
Und in der DIN 33430 schließlich, steht bei den Anforderungen an verantwortliche Eignungsdiagnostiker*innen wie auch an Beobachter*innen, dass sie Kenntnisse haben müssen von „Selbstdarstellungsstrategien“.
Ich möchte an dieser Stelle keine philosophische Diskussion zur Lüge aufgreifen und auch nicht die Feinheiten der Abgrenzung der verschiedenen Begriffe und Verständnisse von Lügen beleuchten.
Ich möchte betrachten, was es bedeutet, wenn im Kennenlernen von zwei Menschen, die sich bis dahin fremd sind, in einem Recruitingprozess die eine oder der andere Seite lügt.
Den Begriff der Lüge werde ich dafür weit fassen. Wenn ich im Folgenden von Lüge schreibe, dann schließe ich darin jede manipulative Darstellung einer Wahrheit ein. Egal, ob durch Auslassung, suggestive Formulierung, Ablenkung oder sonst einen Trick.
Wer lügt wen an?
Im Recruitingprozess gibt es dazu grundsätzlich zwei Seiten. Bewerber oder Bewerberin sitzen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Vertreterinnen und Vertreter der Organisation, Hiring Managerin oder Hiring Manager, Recruiterin oder Recruiter und gegebenenfalls weitere Personen. Das kommt auf die Phase im Prozess oder das Setting an. Manchmal trifft die Bewerber*in auf diese Vertreter*innen der Organisation hintereinander, manchmal auch gleichzeitig. Zur Vereinfachung spreche ich im Folgenden nur von zwei Seiten: Bewerber*in und Organisation.
Wir gehen für die Betrachtung, ob die Lüge den Job gewinnt davon aus, dass die Organisation vollständige Informationen über die Organisation hat, sie sich also selbst kennt und das Bewerber*in sich selbst auch kennt und richtig einschätzen kann.
Wenn die Bewerber*in lügt, dann geht es dabei meist darum, ob sie etwas kann, weiß oder Erfahrungen in einem Feld oder Thema hat, das für die Organisation entscheidungsrelevant ist.
Wenn die Organisation lügt, dann geht es immer wieder darum, dass Arbeitsbedingungen, Stimmung im Team, Zukunft der Organisation oder auch Aspekte der Aufgabenstellung unvollständig, in wesentlichen Details geschönt oder allgemein in rosarot beschrieben dargestellt werden.
Wer lügt, übernimmt die Verantwortung
Wenn die eine Seite in solch einem Kennenlernen lügt, dann nimmt sie der anderen Seite die Möglichkeit, aus den Informationen, die diese dann erhält, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Für die Organisation umfassen diese Entscheidungen mehrere Ebenen. Es geht nicht nur darum, ob einer Kandidatin oder einem Kandidat eine Stelle angeboten wird oder nicht, sondern auch um ad-hoc Entscheidungen zur Gesprächsgestaltung und welche Fragen vertieft werden.
Auch für die die Bewerber*in kann Entscheidung nicht nur bedeuten, eine Stelle anzunehmen oder nicht, sondern insbesondere auch, welche Aussagen jemand über sich selbst macht.
Die Vollständigkeit und Richtigkeit der Informationen, die die Organisation mitteilt, sind also zentral für die Gesprächsführung der Bewerber*in. Dabei ist es egal ob es sich bei falschen Darstellungen der Organisation um Lügen handelt, oder ob das aus Unwissenheit passiert. Beides hat gleichermaßen zur Folge, dass die Bewerber*in keine Möglichkeit hat, die Anforderungen der Stelle für sich richtig einzuordnen. Dies ist aber eine Voraussetzung, um zunächst einmal für sich selbst die Einschätzung zu treffen, wie gut sie für die Aufgabe geeignet wäre. Dies ist gemeint im Sinne einer Selbstselektion oder eines Selbstassessment.
Die eigene Einschätzung „Das packe ich!“ ist die Grundlage für ihren Auftritt, ihre Selbstdarstellung. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass die Bewerberin oder der Bewerber bereits die Möglichkeit hatte, Erfahrungen im Berufsleben zu machen, wird sie diese eigenen Erfahrungen besser kennen als die Organisation.
Wenn eine Bewerber*in sich entscheidet, bei ihren Erfahrungen zu übertreiben, weil sie vielleicht einen Job unbedingt will und sich das zutraut, weil sie denkt, sie könne ihre Defizite mit intensiver Arbeit ausgleichen, dann geht sie damit ins Risiko. Sie gibt der einstellenden Organisation nicht die Chance, über sie zu entscheiden, aber sie entlässt die Organisation auch aus der Verantwortung. Wenn sie jedoch mit ihrer Selbsteinschätzung falsch liegt, müssen beide Seiten den Preis bezahlen.
Schwierig wird es dabei, wenn die Organisation selbst auch ihre Darstellung geschönt hat. Wenn Schwierigkeiten heruntergespielt wurden, Konflikte verschwiegen oder die Workload einfach viel höher ist, sodass die Kalkulation der Kandidat*in, sie könne ihre fehlende Erfahrung mit höherem Engagement ausgleichen, einfach nicht aufgeht. In so einem Fall addieren sich die beiden geschönten Darstellungen zu einer doppelten Fehlentscheidung. Und die Frage stellt sich, wer dafür eigentlich das Risiko trägt.
Und die rosige Darstellung der Arbeitssituation triggerte sozusagen erst die Kompetenzübertreibung der Bewerber*in.
Wer trägt eigentlich das Risiko einer Fehlentscheidung?
Natürlich tragen beide Seiten ein Risiko. Aber für eine Bewerber*in, die eine Arbeit anfängt, die sie nicht leisten kann, ist das immer die eine Position, bei dem einen Arbeitgeber und in ihrem einen Leben. Sie hat nichts anderes und kann dabei scheitern. Für die meisten Organisationen ist das Risiko vergleichsweise kleiner. Es gibt dort meist mehr, sogar viel mehr andere Mitarbeiter*innen. Ein Fehlgriff für ein Unternehmen ist ein Fall von x. Der Fehlgriff für den einzelnen Menschen ist der eine aus n = 1.
Besser gleich gute Eignungsdiagnostik
Für Bewerberinnen und Bewerber macht es immer Sinn genau nachzufragen und zuzuhören, um möglichst viel über eine Stelle zu erfahren. Denn sie kennen sich besser als ihr Gegenüber und haben für sich selbst die zentrale Verantwortung, sich vor einer Fehlentscheidung zu schützen.
Und statt auf Profiliar zu hoffen, macht es für Organisationen daher mehr Sinn, vielleicht doch besser die eigenen Hausaufgaben zu machen:
– Anforderungen richtig und umfassen kennen,
– Eine realistische Arbeitsbeschreibung formulieren und kommunizieren.
– Potenzialorientierte Instrumente nutzen und:
Selbst bei der Wahrheit bleiben.
Dann stimmt der Satz auch nicht: „Die Lüge gewinnt den Job“.
Fazit
Wer lügt trägt die Verantwortung aber nicht unbedingt das Risiko.
Wer gute Eignungsdiagnostik macht, braucht auch keinen Profilier.
Am besten stellen Sie grundsätzlich nach Potenzial neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Führungskräfte ein. Potenziale und Risiken erfasst man am besten mit Instrumenten wie dem abcÎ oder einfach gleich mit dem abcÎ.
Fussnote:
*Ich nenne diese Zunft nur noch „Profiliar“ mit „ia“ für beide Geschlechter. Um ihnen nicht noch mehr Klicks auf dem Tablett zu servieren. Den originalen, von dieser Zunft gekaperten Begriff lasse ich bei den Expert*innen und Fallanalyst*innen von FBI und Co. „Profiliar“ ist eine Idee von Thimo Frieß, dem Initiator und Gründer der #Recruitingrebels. Ich hatte eher den Gedanken meinen Schreibfehler zu nehmen und zum Begriff zu machen: Profilier. Aber mit dem neuen Wort folge ich jetzt Thimo.
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